Sowohl die Forschung wie auch der öffentliche Diskurs zur digitalen politischen Partizipation neigen zu einer befürwortenden Sichtweise auf diverse Formen der aktiven Nutzung digitaler Instrumente zum Zweck der politischen Beteiligung. „Mehr“ digitale Partizipation ist demnach wünschenswert, ein Mangel an digitaler Partizipation umgekehrt ein zu adressierendes Problem. Entlehnt wird diese Sichtweise häufig normativen Demokratiemodellen, die eine möglichst breite und intensive politische Beteiligung der Bürgerinnen und Bürger als wesentlichen Beitrag zur Legitimität politischer Entscheidungen betrachten.
Die affirmative (also befürwortende) Sicht auf digitale politische Partizipation kann aus diversen Perspektiven hinterfragt werden. So kann festgestellt werden, dass die Form der politischen Beteiligung mit der tatsächlich breitesten Partizipation der Bürgerinnen und Bürger unverändert Wahlen darstellen. Selbst bei relativ geringen Wahlbeteiligungen aktiviert kein anderes politisches Beteiligungsangebot auf allen Ebenen der politischen Entscheidungsfindung vergleichbar stark (Lorenz et al., 2020). Diverse andere Optionen der politischen Beteiligung, wie etwa Konsultationen, Petitionen, Bürgerhaushalte, bis hin zu Initiativen und Abstimmungen, erreichen im Vergleich nur einen Bruchteil der Bürgerinnen und Bürger.

Jenseits der Frage der Legitimität partizipativer politischer Entscheidungen mit einer geringen Anzahl tatsächlich Beteiligter zeichnen sich diverse Formen der digitalen politischen Partizipation durch eine – insbesondere im Verhältnis zu Wahlen – geringe(re) Repräsentativität aus. Dabei ist zu beachten: Auch das Wahlrecht nehmen nicht alle Teile der Bevölkerung gleichermaßen in Anspruch. Sozioökonomisch bessergestellte, höher gebildete, politisch interessierte, ältere und häufig noch immer männliche Bürger nehmen besonders starken Einfluss auf Wahlergebnisse. Die meisten dieser Distinktionen kennzeichnen auch die digitale Partizipation – mit einer auffälligen Ausnahme: der Rolle des Alters. Denn online partizipieren die Jungen tatsächlich eher als die Alten (Hoffmann & Lutz, 2021).
Nachdem Wahlen in Deutschland nicht digital durchgeführt werden, stellt sich allerdings die Frage, was sich hinter dem Konzept der digitalen politischen Partizipation im Einzelnen tatsächlich verbirgt. Zahlreiche Analysen heben neuartige Formen politischer Partizipation im Netz hervor, wie ‘connective action’ (Bennett & Segerberg, 2012), also das personalisierte Teilen politischer Inhalte in sozialen Netzwerken, oder diverse Formen der Mobilisierung und des Aktivismus (Freelon et al., 2020). Empirisch lässt sich feststellen, dass die deutlich verbreitetsten Formen digitaler politischer Partizipation jedoch expressiver Natur sind (Lane et al., 2022). Mit anderen Worten: Menschen nutzen digitale Plattformen, um ihren Ansichten Ausdruck zu verleihen.
In einer aktuellen Literaturanalyse stellen Ruess et al. (2023) daher fest, dass akademische Studien zwar digitale politische Partizipation häufig eng als die Einflussnahme auf politische Institutionen definieren, empirisch aber tatsächlich politische Mitteilungen oder Selbstoffenbarungen in Social Media messen – und somit ein sehr breites, eher informelles Verständnis politischer Partizipation anwenden. Auch hier gilt: Wenn der Blick auf stärker formalisierte und institutionalisierte Formen der digitalen politischen Partizipation gerichtet wird, wie Online-Petitionen, -Konsultationen, -Ideenwettbewerbe etc., dann schrumpft die Zahl tatsächlich Beteiligter häufig so stark, dass diese Phänomene empirisch relativ schwierig zu untersuchen sind.
Weiter verkompliziert wird die abwägende Analyse digitaler politischer Beteiligung, wenn die eingangs erwähnten Prämissen in Frage gestellt werden: Ist mehr Beteiligung tatsächlich stets wünschenswert, und ist wenig(er) Beteiligung ein Problem? Lutz und Hoffmann (2017) schlagen die Berücksichtigung zweier analytischer Dimensionen vor: die Valenz und die Intentionalität digitaler (Nicht-)Partizipation. So lässt sich feststellen, dass Bürgerinnen und Bürger gelegentlich entgegen ihrer Intention digital politisch partizipiert „werden“, etwa indem sie sich dazu gedrängt fühlen, oder technisch eingebunden werden (bspw. durch Verlinkungen/Tags anderer Nutzer). In diesem Falle ist die Partizipation nicht intentional und weniger Partizipation gewünscht. Umgekehrt kann die Nicht-Partizipation ganz absichtlich verfolgt werden, etwa im Falle eines Boykotts.
Schließlich zeigen aktuelle Debatten rund um „Desinformation“ und „Hatespeech“, dass nicht alle Formen digitaler politischer Partizipation wünschenswert sind. Extremisten, die sich online politisch koordinieren, Bürger, die in verschwörungstheoretischen Foren engagiert diskutieren, oder Trolle, die zu politischen Diskursen vor allem Störendes beitragen, stellen allesamt Beispiele aktiver, intentionaler politischer Partizipation dar, die gemeinhin aber als nicht wünschenswert betrachtet werden.
Was bedeutet all dies nun für jene, die politische Beteiligungsangebote im Netz unterbreiten? Erstens ist festzustellen, dass solche Formate der digitalen Beteiligung nur eine Manifestation eines sehr vielfältigen Phänomens darstellen. Dazu gehört auch: der größte Teil digitaler politischer Partizipation findet jenseits öffentlicher „top-down“ Formate statt – und sollte bei politischen Vorhaben nicht außer Acht gelassen werden. Zweitens sollte stets ein Bewusstsein dafür herrschen, dass die Repräsentativität der Voten digitaler politischer Partizipationsformate in der Regel begrenzt ist. Das gilt jedoch für Partizipationsangebote offline wie online. Der Vorteil digitaler Beteiligungsangebote ist hier vor allem, dass eher jüngere Bürgerinnen und Bürger erreicht werden.
Drittens schließlich sollte beachtet werden, dass eine geringe Beteiligung an digitalen Partizipationsformaten nicht immer problematisch sein muss. Die Motive für eine Nicht-Beteiligung können vielfältiger Natur sein. Umgekehrt ist nicht jede Form der Beteiligung wünschenswert – auch hier variieren Motive stark. Digitale Partizipationsangebote erfordern daher meist klarer Spielregeln und auch deren Durchsetzung, bspw. durch eine Moderation. In der öffentlichen Bekanntmachung von Partizipationsangeboten sollten vorsichtig durchdacht werden, wie der Zweck, die Vorteile, und die gewünschte Motivation einer Beteiligung treffend, verständlich, und überzeugend erklärt werden können – so dass ein „Mehr“ an tatsächlich hilfreicher Beteiligung erzielt werden kann.
Literaturverzeichnis
Bennett, W. L., & Segerberg, A. (2012). The logic of connective action. Information, Communication & Society, 15(5), 739-768.
Freelon, D., Marwick, A., & Kreiss, D. (2020). False equivalencies: Online activism from left to right. Science, 369(6508), 1197-1201.
Hoffmann, C. P., & Lutz, C. (2021). Digital divides in political participation: The mediating role of social media self‐efficacy and privacy concerns. Policy & Internet, 13(1), 6-29.
Lane, D. S., Do, K., & Molina-Rogers, N. (2022). What is political expression on social media anyway? A systematic review. Journal of Information Technology & Politics, 19(3), 331-345.
Lorenz, A., Hoffmann, C. P., & Hitschfeld, U. (2020). Dynamik und Herausforderungen der Ausweitung von Angeboten politischer Partizipation in Deutschland. Einleitung. In A. Lorenz, C. P. Hoffmann, & U. Hitschfeld (Hrsg), Partizipation für alle und alles? Fallstricke, Grenzen und Möglichkeiten (S. 1-21). Springer.
Lutz, C., & Hoffmann, C. P. (2017). The dark side of online participation: exploring non-, passive and negative participation. Information, Communication & Society, 20(6), 876-897.
Ruess, C., Hoffmann, C. P., Boulianne, S., & Heger, K. (2023). Online political participation: the evolution of a concept. Information, Communication & Society, 26(8), 1495-1512.

Prof. Dr. Christian Pieter Hoffmann
Professor für Kommunikationsmanagement am Institut für Kommunikations- und Medienwissenschaft der Universität Leipzig
Prof Dr Christian P. Hoffmann teaches at the Institute of Communication and Media Studies at Leipzig University. He is also responsible for teaching in the field of political communication at the Institute of Political Science. He is the academic director of the Centre for Research in Financial Communication. His research focuses on strategic communication management, financial communication and political communication, with a particular focus on the challenges and opportunities of new media.